Am 14.09.2022 ist Welt-Neurodermitis-Tag. Anlass, sich mit dieser weit verbreiteten Hauterkrankung zu beschäftigen, gibt es genug. Prof. Dr. med. Marc Radtke und Dr. med. Peter Weisenseel, Fachärzte für Dermatologie mit dem Schwerpunkt chronisch-entzündliche Hauterkrankungen (Neurodermitis, Psoriasis) am Dermatologikum Hamburg, geben Einblicke in den aktuellsten Stand der Medizin und geben Empfehlungen für einen ganzheitlichen Umgang und moderne Therapie-Möglichkeiten.
Wie hoch ist der Bevölkerungsanteil, der unter Neurodermitis leidet, welche Auffälligkeiten gibt es bei der Erkrankung?
Status Quo
Prof. Dr. med. Marc Radtke: In Deutschland leiden bereits ca. 13 % aller Kinder zeitweilig unter einer Neurodermitis (auch atopisches Ekzem oder atopische Dermatitis genannt). Studien zur Häufigkeit der Neurodermitis bei Erwachsenen deuten auf eine Rate von 2-3 % hin. Gemäß versorgungsepidemiologischen Analysen aus Deutschland nehmen rund 20-25 % der Säuglinge und Kleinkinder, 8 % der Schulkinder und 2 bis 4 % der Erwachsenen Gesundheitsleistungen aufgrund der Neurodermitis in Anspruch. Bei Kindern ist die Neurodermitis damit die häufigste chronische Erkrankung überhaupt.
Wie ist der klassische Verlauf und die Entwicklung?
Prof. Dr. med. Marc Radtke: Die Neurodermitis beginnt bei etwa der Hälfte der Patienten in den ersten sechs Lebensmonaten, in 60 % der Fälle im ersten Lebensjahr und in über 70 bis 85 % der Fälle vordem fünften Lebensjahr. Jedoch sind etwa 60 % der erkrankten Kinder bis zum frühen Erwachsenenalter wieder symptomfrei. Ein früher Erkrankungsbeginn, Begleiterkrankungen wie Asthma und Heuschnupfen, ein schwerer Krankheitsverlauf im Kindesalter und unmittelbar betroffene Familienmitglieder sind Signale für ein mögliches Anhalten der Neurodermitis bis ins Erwachsenenalter.
Gibt es neben der Neurodermitis Auffälligkeiten, die viele möglich Betroffene zeigen?
Prof. Dr. med. Marc Radtke: 50 - 80 % der Patient*innen weisen Sensibilisierungen gegen Aeroallergene und/oder Nahrungsmittelallergene auf. Diese zeigen sich überdurchschnittlich häufig durch Heuschnupfen, allergisches Asthma oder einer klinisch relevanten Nahrungsmittelallergie. Lassen sich diese Auslösefaktoren nachweisen, die für die Unterhaltung der Entzündung klinisch relevant sind, so ist die Durchführung einer spezifischen Immuntherapie im Rahmender zugelassenen Indikation empfehlenswert.
Die Experten
Prof. Dr. med. Marc Radtke
Prof. Dr. med. Marc Radtke ist Ärztlicher Leiter am Dermatologikum Hamburg
Dr. med. Peter Weisenseel
Dr. med. Peter Weisenseel leitet die klinische Forschung am Dermatologikum Hamburg
Was sollten Betroffene für eine rasche Linderung beachten?
Ganzheitlicher Ansatz
Prof. Dr. med. Marc Radtke: Für eine effiziente und auf die Bedürfnisse der Patient:innen abgestimmte Behandlung, ist eine gründliche Vorab-Diagnostik wichtig. Hier gilt es insbesondere, mögliche Auslöse- und Triggerfaktoren zu identifizieren. Für die weitere Therapieplanung ist auch die Differenzierung der unterschiedlichen klinischen Formen der Neurodermitis mit ihren altersspezifischen Ausprägungen von besonderer Bedeutung.
Wie kann das Umfeld den Patient:in unterstützen?
Prof. Dr. med. Marc Radtke: Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass es entscheidend ist, Patient:innen und deren Angehörige über mögliche Auswirkungen auf die Lebensqualität zu informieren. Denn Neurodermitis kann die Lebensqualität einschränken, den Alltag bestimmen und ist oft für alle Beteiligten belastend. Es ist wichtig, von Anfang an das Selbstwertgefühl, besonders bei Kindern, zu stärken, indem es über die Krankheit aufgeklärt wird und verinnerlicht wird, dass es sich nicht für seinen Körper schämen muss. Gesunde Geschwisterkinder fühlen sich eventuell zurückgesetzt und in ihren Bedürfnissen nicht ausreichend wahrgenommen. Hier ist es wichtig, als Eltern den Überblick zu behalten und den Umgang mit der Erkrankung Teil des Alltags werden zu lassen.
Welche Studie wird aktuell im Dermatologikum Hamburg durchgeführt?
Dr. med. Peter Weisenseel: Aktuell läuft eine Studie mit dem monoklonalen Antikörper Lebrikizumab, der die entzündungshemmende Wirkung von Interleukin-13 an den Zielzellen reduziert. Ein Einschluss von Patient:innen in die laufende Studie ist nicht mehr möglich. Im Vergleich zu dem am meisten etablierten modernen Medikament Dupixent (= Handelsname, Wirkstoff: Dupilumab) wird erwartet, dass die bei Dupixent beobachteten Reizungen im Augenbereich seltener auftreten. Ein ähnlicher Antikörper gegen IL-13 ist bereits zugelassen (Handelsname Adtralza, Wirkstoff: Tralokinumab), der im Augenbereich seltener Reizungen als Dupixent auslöst, jedoch von der Wirksamkeit in den ersten Monaten schwächer als Dupixent ist.
Welche Vorteile hat dieses Medikament gegenüber bereits bestehenden Medikamenten auf dem Markt?
Dr. med. Peter Weisenseel: Mit einer Zulassung von Lebrikizumab in Europa wird ggf. noch Ende 2022 oder Anfang 2023 gerechnet.
Wann werden die Spritzen voraussichtlich zugelassen?
Dr. med. Peter Weisenseel: In unserem Studienzentrum werden ab Herbst weitere Studien zur innerlichen Therapie der Neurodermitis mit z.T. zugelassenen und noch nicht-zugelassenen Wirkstoffen beginnen. Hier können dann geeignete, erwachsene Patient:innen eingeschlossen werden. Nähere Informationen per Anfrage über unser Studienzentrum: KlinischeStudien@dermatologikum.de